5.1 Istmodellierung

Eine Bestandsaufnahme der bestehenden Geschäftsprozesse wird Istmodellierung oder auch Istanalyse genannt. Sie kann sich auf einzelne Geschäftsprozesse oder auf Teile der Prozesslandschaft beziehen. Ihr Ziel ist, Defizite und Verbesserungspotentiale in den Geschäftsprozessen zu erkennen. Die Erhebung muss, soll sie aussagekräftig sein, umfassend erfolgen.

Sie kann auf verschieden Ebenen erfolgen, abhängig von der Zielsetzung. Geht es darum, Defizite und Optimierungsmöglichkeiten aufzudecken, wird die Ebene der Standardprozessmodellierung gewählt (vgl. Kapitel 12). Geht es um Überblicksgewinnung wird eine höhere Aggregationsebene gewählt.

Verschiedene Ebenen

Erhoben werden alle Komponenten (Träger, Aufgaben, ...) und ihr Zusammenhang (Kontroll- und Nachrichtenflüsse, evtl. andere Flüsse), soweit sie für die Modellierungsebene notwendig sind.

Prägung durch Zielsetzung

Jede Prozessmodellierung hat die allgemeine Zielsetzung, den Prozess zu erfassen, kennenzulernen, zu optimieren, usw., wie oben besprochen. Manchmal kommen aber noch weitere dazu, die sich aus tatsächlichen oder vermuteten Defiziten ableiten. In diesen Prozessen oder Prozessabschnitten erfolgt die Istanalyse wesentlich detaillierter, sozusagen in Vorbereitung der nachfolgenden Optimierungsbemühungen.

Subjektivität 3

Dazu zwei Beispiele, die der Verfasser in der Praxis beobachten konnte. Das erste ist in [Staud 2006, Abschnitt 6.2] vorgestellt. Dort wird ein Geschäftsprozess vorgestellt, mit dem die ganze Auftragsabwicklung eines mittelständischen Unternehmens modelliert wurde. Der Schwerpunkt lag aber auf der Frage, inwieweit die Erstellung der hierbei notwendigen CAD-Unterlagen durch die Einführung eines leistungsstärkeren CAD-Systems verbessert werden könnte. Deshalb wurde in Prozessabschnitten, die dies thematisieren, die Modellierung sehr detailliert („ausgedruckte CAD-Unterlatgen in Schubladen ablegen“), während sie an anderen Stellen, wo es eigentlich nur darum ging, die Lücke zu schließen, um den Prozess als Ganzes modellieren zu können, höher aggregiert, ja sogar oberflächlich wurde.

Beispiel 1 – leistungsstärkeres CAD-System

Das Ergebnis waren hier sehr unterschiedliche Aggregationsniveaus in den Prozessmodellen. Von tayloristisch anmutenden Abschnitten bis zu groben Überblicken („Teile beschaffen“).

Das zweite Beispiel betrifft die Datensicherung bei einem Finanzdienstleister. Im Rahmen eines übergreifenden Projekts zur Prozessmodellierung fiel auf, dass die Geschäftsprozesse rund um die Sicherung und Wiederbereitstellung (nach einem entsprechenden Vorfall) der Daten in sehr viel größerer Detailliertheit erfasst wurden, als der Rest der Prozesswelt. Ursache war nicht nur die große Bedeutung dieser Vorgänge im digitalisierten Zeitalter, sondern das ausgefeilte rechtliche Rahmenwerk, das auch auf die Prozessgestaltung Einfluss hatte.

Datensicherung

5.1.1 Werkzeuge

Werkzeuge für die Istmodellierung (für die Darstellung von Modellen) sind:

  • die natürliche Sprache
  • Formulare für die Prozessbeschreibung
  • Methoden zur Prozessmodellierung wie Ereignisgesteuerte Prozessketten und die BPMN

Dokumentation von Geschäftsprozessen in Tabellen

Neben der Dokumentation von Geschäftsprozessen in Prozessmodellen ist meist auch eine tabellarische Beschreibung von Geschäftsprozessen notwendig. Ein einfaches Formular zur Erhebung von Prozessinformationen ist in der folgenden Abbildung angegeben.


Abbildung 5.1-1:

Formular zur Erhebung von Prozessinformationen

Hier einige Anmerkungen zu den Feldern, soweit sie nicht selbsterklärend sind (in Klammern jeweils die Ausprägung eines Beispiels Nachbestellung):

  • In der ersten Zeile werden die Bezeichnung des Prozesses (z.B. Nachbestellung), das Datum der Erstellung der Beschreibung, der Name des Erstellers und der Automatisierungsgrad angegeben.
  • Auslöser des Prozesses (Nachbestellanforderung aus dem Lager)
  • Ergebnisse: Ergebnisse des Prozessablaufs (Nachbestellung oder Ablehnung derselbigen)
  • Rollen, die hier aktiv werden
  • Prozessverantwortliche(r): Person oder Software, die für den Prozess verantwortlich ist (Lagersoftware)
  • Beteiligte (Lagermitarbeiter)
  • Zu informieren: Personen, die über die Prozessabwicklung informiert werden müssen.
  • Anschließend wird zeilenweise jeder Prozessschritt dokumentiert.
  • Verantwortlich: verantwortliche Stelle
  • Input: verwendete Informationen
  • Output: entstehende Informationen
  • IT-Einsatz
  • Datenbankzugriff: Zugriffe auf die Datenbanken des Unternehmens

5.1.2 Zweck?

Die Istmodellierung erfolgt meist zur Feststellung von Schwachstellen (vgl. unten) oder einfach zu Dokumentationszwecken (z.B. im Rahmen einer ISO-Zertifizierung). Weitere Ziele werden unter dem Stichwort Einsatzzwecke von Prozessmodellen in [Becker, Kugeler und Rosemann 2012, S. 199f] genannt:

Schwachstellen beseitigen

  • Organisationsdokumentation. Z.B. für aktuelle Beschreibungen der Geschäftsprozesse.
  • Prozessorientierte Reorganisation. Revolutionär oder evolutionär.
  • Kontinuierliches Prozessmanagement. Auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Planung, Durchführung und Kontrolle der Prozesse.
  • Zertifizierung nach DIN ISO 9000ff. Nur mit Dokumentation der Modelle.
  • Benchmarking. Die eigenen Geschäftsprozesse mit denen anderer Unternehmen vergleichen.
  • Wissensmanagement. Schaaffung von Transparenz über die Unternehmensressource Wissen.
  • Modellbasiertes Customizing. Parametrisierung der Software.
  • Softwareentwicklung. Als Teil der Anforderungsbeschreibung.
  • Workflow-Management. Prozessmodelle als Grundlage für die Erstellung von Workflowmodellen.
  • Simulation. Untersuchung des Systemverhaltens im Zeitablauf mit dem Ziel der Prozessoptimierung.

Mit dem Begriff Customizing wird die Anpassung der Standardsoftware (z.B. der ERP-Software) an die realen Prozesse bezeichnet. Zumindest der größere Teil dieser Anpassung soll bei Standardsoftware so ablaufen, dass nicht programmiert werden muss, sondern dass nur die wie auch immer gestalteten Parameter der Standardsoftware verstellt werden. Ein eventueller Rest kann dann mit einer mitgelieferten Programmiersprache erledigt werden.

Ein wichtiges Ziel ergibt sich bei der Einführung einer prozessorientierten Standardsoftware (z.B. ERP-Software). Der Vergleich der konkreten vorliegenden Geschäftsprozesse mit den vorgedachten der prozessorientierten Software. Die dabei entdeckten Unterschiede müssen dann auf die eine oder andere Weise bewältigt werden. Es muss also eine detaillierte Istmodellierung erfolgen.

5.1.3 Mögliche Schwachstellen

Es gibt zahlreiche mögliche Schwachstellen, die man bei einer Istmodellierung entdecken kann. Besonders wichtig sind evtl. Defizite in der Daten- und Prozessintegration. Aus ihnen entstehen Medien- und Organisa­tionsbrüche. Medienbrüche sind, wenn genügend detailliert modelliert wurde, im Prozessmodell leicht erkennbar. Die entsprechenden Informationsobjekte müssen mehrfach erhoben werden, Übertragungs- und Transportvorgänge liegen vor. Organisationsbrüche sind, auf unterschiedliche Weise, ebenfalls in der Modellierung erkennbar: Zu übergebende Information muss angepasst werden. Zuständigkeiten wechseln, obwohl nicht sachlich begründet. Solche Defizite treten heute meist nur an Unternehmensgrenzen auf, nicht mehr innerhalb der Organisationen.

Daten- und Prozessintegration

Eine Istmodellierung darf sich allerdings nicht nur auf Störungen im Prozessablauf beschränken. Sie muss auch alle Prozessaktivitäten hinsichtlich Effektivität und Effizienz untersuchen, auch diejenigen, die sich nicht als Störungen äußern. Dies kann im Extremfall auch dazu führen, dass der Geschäftsprozess als Ganzes für überflüssig erachtet oder durch eine automatisierte Variante ersetzt wird.

Effektivität und Effizienz

Hier einige konkrete Beispiele für Defizite, die bei Istanalysen entdeckt werden können:

  • zu lange Transportzeiten von Prozessobjekten (Dokumente, Rechnungen, CAD-Zeichnungen, usw.; im Bürobereich ganz allgemein von Vorgängen)
  • zu lange Warte- und Liegezeiten von Prozessobjekten
  • zu lange Bearbeitungs-, Rüst- und Prozessdurchlaufzeiten
  • redundante Tätigkeiten
  • hohe Fehlerraten
  • zu lange Kommunikations- und Entscheidungswege

Andere Schwachstellen erkennt man erst bei intensiver Analyse von Prozessmodell und -instanz(en):

  • zu hohe Komplexität
  • unzureichendes Prozessdenken (konkret: unzureichendes Verständnis für vor- und nachgelagerte Prozessabschnitte bei den Beteiligten)
  • zu hohe Gesamtkosten der Prozesse
  • zu wenig Transparenz, was u.U. auch die Veränderung von Geschäftsprozessen behindert

Erst durch die zusätzliche Analyse des Geschäftsprozessmanagements erkennt man Defizite wie:

  • mangelnde Prozessorientierung
  • unzulängliche Prozessverantwortlichkeiten
  • fragmentierte Verantwortlichkeiten

Manche Defizite treten bei der Prozessmodellierung gleich zutage. Andere nur bei entsprechender Schwerpunktsetzung, entsprechend den Zielen. Diese Ziele prägen die konkrete Ausgestaltung der Prozessmodellierung sehr stark. Je nach vermutetem Defizit wird sie unterschiedliche Schwerpunkte haben. In [Staud 2006, Abschnitt 6.2] wird ein Geschäftsprozess vorgestellt, in dem dies sehr deutlich wird. Modelliert wird eine ganze Auftragsabwicklung. Der Schwerpunkt lag aber auf der Frage, inwieweit die Erstellung der notwendigen CAD-Unterlagen verbessert werden könnte. Deshalb wird in Prozessabschnitten, die dies thematisieren, die Modellierung sehr detailliert, während sie an anderen Stellen, wo es eigentlich nur darum ging, die Lücke zu schließen, um den Prozess als Ganzes modellieren zu können, höher aggregiert, ja sogar oberflächlich wird.

5.2 Sollmodellierung

Aufbauend auf der Istmodellierung und den dabei entdeckten Schwachstellen (und weiterer Schwachstellenanalysen) kann die Erstellung von Prozessmodellen erfolgen, in denen die Schwachstellen beseitigt sind. Dies wird Sollmodellierung genannt, die dann zu Sollprozessen führt.

Es geht also um Geschäftsprozessoptimierung, die schrittweise Beseitigung von Schwachstellen der vorhandenen Prozesse. Dazu im Gegensatz steht die radikale Neugestaltung des Geschäftsprozesses, das sog. Business Process Reengineering (vgl. Kapitel 11) .

Konkrete Maßnahmen

Eine sehr umfassende Zusammenstellung von möglichen konkreten Maßnahmen bei der Restrukturierung von Geschäftsprozessen findet sich bei Gadatsch:

  • Überprüfung der Notwendigkeit von Prozessen oder Teilprozessen zur Funktionserfüllung, Abschaffung von Medienbrüchen, Abschaffung von nicht sinnvollen Genehmigungsschritten.
  • Vergabe von Teilprozessen oder vollständigen Prozessketten durch externe spezialisierte Dienstleister (z. B. Buchführung und Bilanzierung durch einen Steuerberater).
  • Zusammenfassung arbeitsteiliger Aufgaben dergestalt, dass ein Bearbeiter zusammengehörige Teilprozesse vollständig ohne Bearbeiterwechsel durchführt (z. B. Kundenberatung und Auftragserfassung bis zur Erstellung der Auftragsbestätigung).
  • Erhöhung der Arbeitsteilung bei parallelisierbaren Teilschritten (z. B. Klausurkorrektur durch mehrere Prüfer je Teilgebiet).
  • Verlagerung von Prozessschritten, so dass Aufgaben frühzeitig durchgeführt werden, ohne später zu einem Flaschenhals zu werden (z. B. vollständige Erfassung der Kundeninformationen bei Auftragserfassung).
  • Einsatz von zeitsparenden Arbeitsmitteln. (Dokumentenmanagementsystem ersetzt Papierdokumentation), Reduzierung von Warte- und Liegezeiten durch Erhöhung von Kapazitäten.
  • Schleifenfreie Gestaltung von Prozessen, d. h. Verzicht auf Wiederholung von Teilschritten eines Prozesses (z. B. Onlineerfassung aller Kunden- und Bestelldaten im Rahmen der Auftragserfassung und Freigabe des Auftrages erst nach vollständiger Plausibilisierung der Daten).
  • Vermeidung von nachgelagerten Prozessen zur „Schadensbeseitigung" (z. B. Ergänzung einer Qualitätskontrolle nach der Teilemontage um einen möglichen „Nachbearbeitungsprozess" oder eine „Rückholaktion fehlerhafter Ware" zu vermeiden).

[Bleicher 1991], zitiert nach [Gadatsch 2015, Pos. 478].

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Fragen

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