8.1 Einführung

Da hat man seine Geschäftsprozesse optimiert, in ständigem Bemühen Schwachstellen ausgemerzt, dann kommt plötzlich die Forderung nach der Bestimmung des Reifegrades der Geschäftsprozesse und des Geschäftsprozessmanagements. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass Geschäftsprozesse eingeführt und dann (meist) ständig optimiert werden müssen, um die gewünschte Effektivität und Effizienz aufzuweisen.

Ständige Aufgabe

Oftmals werden die Reifegrade bei der Einführung neuer oder stark veränderter Geschäftsprozesse gemessen, um den Einführungserfolg zu messen. Zu beachten ist, dass sich die Messung des Reifegrades auf die Einrichtung entsprechender Strukturen bezieht (entsprechend dem Reifegradmodell), nicht auf die konkrete Leistung. Gemeint ist also die Ermittlung der bis zum Erhebungszeitpunkt erreichten Qualität der Rahmenbedingungen der Prozesse. Der Verfasser erlebt es immer wieder, dass Geschäftsprozesse mit niedrigem Reifegrad (nach den gängigen Modellen) hervorragende Leistung erzielen.

Es geht damit also um die Analyse von Geschäftsprozessen und des Geschäftsprozessmanagements bezüglich ihrer Stärken und Schwächen und dem Ableiten von Maßnahmen, mit denen die Schwächen beseitigt und die Stärken befördert werden können. Oftmals wird auch die regelmäßige Wiederholung gefordert (Reassessment) und damit z.B. die Kontrolle des Fortschritts bei einer Prozesseinführung. Festgestellt wird der Reifegrad durch sog. Prozessassessments, die nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn aus den Ergebnissen Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet und umgesetzt werden [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 358].

Kriterien?

Was sind Reifegrade? Die in der Literatur genannten Ziele sind recht allgemein gehalten. So heben Schmelzer/Sesselmann auf die Breite und Tiefe des Geschäftsprozessmanagements ab. Wie breit wird Geschäftsprozessmanagement eingesetzt? Wie vollständig ist es umgesetzt? "Inwieweit erfüllen Geschäftsprozesse und Geschäftsprozessmanagementsysteme die Voraussetzungen für eine hohe Leistungsfähigkeit und das Erreichen der Geschäftsziele?" [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 357f]. Anschaulicher wird es bei den Reifegradmodellen, wenn konkrete Anforderungen für die einzelnen Grade formuliert werden. Dazu unten mehr.

Reifegrade

8.2 Assessments

Die Projekte zur Feststellung des Reifegrades werden Assessment (CMMI: Appraisal) genannt. Dabei wird die konkrete Situation im Unternehmen mit den Forderungen des ausgewählten Reifegradmodells verglichen. Je besser die Übereinstimmung mit diesen Forderungen ist, desto höher ist der Reifegrad. Der Erfolg eines Prozessassessments und die Aussagekraft seiner Bewertung hängen somit sehr stark von der Wahl des Reifegradmodells ab. Dieses muss zum Anwendungsbereich des Unternehmens passen und die davon abgeleiteten Checklisten müssen qualitativ hochwertig sein, d.h. zu aussagekräftigen Ergebnissen führen können. Natürlich sollten die durchführenden Personen kompetent und mit den notwendigen Zuständigkeiten ausgestattet sein.

Assessments können auch in Form von Selbstbewertungen durchgeführt werden. "Die Selbstbewertung ist eine umfassende und systematische Bewertung der Tätigkeiten der Organisation und ihrer Leistung in Bezug auf den Reifegrad" [ISO 9004:2009, Abschnitt 8.3.4], zitiert nach [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 357].

Selbstassessments

Ist ein Assessment kompetent durchgeführt, können die Ergebnisse bei einer Vielzahl von Aufgaben (des Geschäftsprozessmanagements) helfen. Sie zeigen Möglichkeiten zur Prozessverbesserung auf, bei wiederholten Assessments Messung der Prozessverbesserung. Bei der Einführung von Geschäftsprozessen kann damit der Einführungsprozess begleitet und der hoffentlich erreichte Fortschritt gemessen werden.

Ergebnisse

 

Risiken beherrschen?

Schmelzer/Sesselmann sehen sogar die Möglichkeit, durch Assessments die Risiken in Geschäftsprozessen besser zu beherrschen. U.a. führen sie als mögliche Ergebnisse von Assessments an:

  • Klärung von Erfolgsrisiken in Geschäftsprozessen und im Geschäftsprozessmanagement
  • Identifizierung kritischer Geschäftsprozesse
  • Identifizierung kritischer Komponenten des Geschäftsprozessmanagements

[Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 358)

8.3 Reifegradmodelle

Will man "Reife" messen (im Sinne dieses Kapitels), dann muss man die reale Situation rund um den betrachteten Geschäftsprozess oder das Geschäftsprozessmanagement mit einer idealisierten Situation vergleichen und dies sollte sollte gestuft erfolgen können. Genau dazu dienen die sog. Reifegradmodelle. Bewertet werden können die gesetzten Rahmenbedingungen für

„Reife“ messen

  • einzelne Geschäftsprozesse
  • das Geschäftsprozessmanagement
  • die Organisation als Ganzes

Die in der Literatur hierzu genannten Ziele bleiben, wie wir gesehen haben, recht ab­strakt, die Verknüpfung mit konkreten Zielen erfolgt bei den einzelnen Modellen (vgl. unten).

Es versteht sich, dass der Reifegrad umso höher ist, je besser die Voraussetzungen für die Effektivität und Effizienz der Prozesse realisiert sind. Die Reifegradstufen bauen aufeinander auf. Bei jeder ist angegeben, durch welche Maßnahmen die nächst höhere erreicht werden kann.

Reifegradstufen


Abbildung 8.3-1:

Vom Assessment zum Reifegrad

Konkrete Reifegradmodelle

Es gibt inzwischen sehr viele Reifegradmodelle für viele Anwendungsbereiche, Schmelzer/Sesselmann schätzen die Zahl auf über 200. Zu den bekannteren gehören die Folgenden:

  • Capability Maturity Model Integration (CMMI) für die Anwendungsbereiche Entwicklung, Beschaffung, Service. Beurteilt wird die Organisation. Bewertungsmethode ist SCAMPI. Vgl. die Beschreibung unten.
  • Software Process Improvement and Capability Determination (SPICE) zusammen mit ISO 15504 (SPICE/ISO 15504) für den Anwendungsbereich Softwareentwicklung. Beurteilt werden einzelne Prozesse. Bewertungsmethode SCAMPI. Vgl. die Beschreibung unten.
  • ITIL (IT Infrastructure Library) für den Anwendungsbereich IT-Management. Beurteilt wird die Organisation. Bewertungsmethode Checklisten.
  • BPMM-Modell (Business Process Maturity Model) für den Anwendungsbereich Industrie. Beurteilt wird das Geschäftsprozessmanagement. Als Bewertungsmethode dienen Checklisten.
  • ISO-Reifegradmodell nach ISO 9004 für alle Anwendungsbereiche. Es ist allgemein einsetzbar. Beurteilt wird das Geschäftsprozessmanagement.
  • PEM-Modell (Process and Enterprise Maturity Model) für alle Anwendungsbereiche. Beurteilt werden die Organisation und einzelne Prozesse. Als Bewertungsmethode dienen Checklisten.

Vgl. [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 360ff] und die dort angegebene Literatur.

8.4 Capability Maturity Model Integration (CMMI)

Die Methode Capability Maturity Model Integration (CMMI) wurde vom Software Engineering Institute (SEI) der Carnegie Mellon University in Pittsburgh entwickelt. Ziel ist die Optimierung aller Prozesse in einer Organisation, wobei von der Erkenntnis ausgegangen wird, dass Fortschritte nur schrittweise möglich sind. Deshalb bietet CMMI einen schrittweisen Verbesserungsweg an. Falls die Situation es erfordert, von einem unreifen Ad Hoc - Prozess zu einem optimierten und leistungsstarken Geschäftsprozess.

Im Reifegradmodell CMMI wird das Projekt zur Klärung des Reifegrads Appraisal genannt.

Das CMMI besteht aus einem Satz integrierter Modelle für unterschiedliche Anwendungsbereiche:

Anwendungsbereiche

  • CMMI for Aquisition (CMMI-ACQ) für Beschaffungsvorgänge (Produkte und Leistungen)
  • CMMI for Development (CMMI-DEV) für die Software- und Systementwicklung
  • CMMI for Services (CMMI-SVC) für die Erbringung von Dienstleistungen

Betrachtet werden 22 Prozessgebiete, wovon 16 Kernprozessgebiete sind. Die Prozessgebiete umfassen in vier Untergruppen wichtige prozessrelevante Themen:

Prozessgebiete

  • Unterstützung (Konfigurationsmanagement, Sicherung Prozessqualität, Sicherung Produktqualität, ...)
  • Prozessmanagement (Aus- und Weiterbildung, Prozessentwicklung, Prozessausrichtung, Prozessleistung, ... - alles organisationsweit.
  • Projektmanagement (Anforderungsmanagement, Projektplanung, Zulieferungsmanagement, Risikomanagement, ...)
  • spezifische anwendungsbereichsbezogene Themen (am Beispiel Entwicklung: Anforderungsentwicklung, Technische Umsetzung, Produktintegration, ...)

Vgl. [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 362f]

"Fähigkeits- und Reifegrade"

CMMI sieht vor, dass einzelne Prozessgebiete verbessert werden, dies wird über Fähigkeitsgrade (capability levels) gemessen, oder eine Gruppe zusammenhängender Prozessgebiete, was über Reifegrade (maturity levels) gemessen wird.

Fähigkeitsgrade nach CMMI (vgl. CMMI-DEV 2010, S. 23)

Grad

Fähigkeitsgrade

Ziele (Beispiele)

0

Incomplete

Unvollständiger Prozess, der nicht den Fähigkeitsgrad 1 erreicht.

1

Performed

Ist erreicht, wenn ein Prozess das angestrebte Ziel erreicht und damit als durchgeführt (performed) bezeichnet werden kann.

2

Managed

Verlangt die Institutionalisierung eines Prozesses als wiederholbaren (managed) Prozess.

3

Defined

Verlangt die Institutionalisierung eines Prozesses als definierten Prozess.


Anmerkung: Der Begriff „Institutionalisierung“ bringt eine organisatorische Verankerung zum Ausdruck.

Die Reifegrade bauen auf den Fähigkeitsgraden auf. Um einen Reifegrad zu erreichen, müssen bestimmte Fähigkeitsgrade umgesetzt sein.

Reifegrade nach CMMI (vgl. CMMI-DEV 2010, S. 23)

Grad

Reifegrade

Beschreibung

1

Initial

Prozesse laufen "chaotisch" ab (vgl. unten)

2

Managed

Alle Prozessgebiete müssen die Fähigkeitsgrade 2 oder 3 erreichen.

3

Defined

Alle Prozessgebiete, die den Reifegraden 2 und 3 zugeordnet sind, müssen den Fähigkeitsgrad 3 aufweisen.

4

Quantitatively Managed

Alle Prozessgebiete, die den Reifegraden 2, 3 und 4 zugeordnet sind, müssen den Fähigkeitsgrad 3 aufweisen.

5

Optimizing

Alle Prozessgebiete, die den Reifegraden 2, 3, 4 und 5 zugeordnet sind, müssen den Fähigkeitsgrad 3 aufweisen


Vgl. [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 363ff] und die dort angegebene Literatur.

An den Merkmalen der Reifegradstufen können die Vorstellungen der Urheber bzgl. der Qualität von Geschäftsprozessen nachvollzogen werden:

Reifegrad 1: Initial

Es gibt kein Prozessmanagement, Prozesse laufen chaotisch ab. Darunter wird hier verstanden, dass Prozessvorgaben fehlen, der Erfolg vom Know-how einzelner Personen abhängt. Solche Prozesse liefern keine vorhersagbaren Ergebnisse (meinen die Urheber), die Ressourcen sind stark mit der Behebung von Krisen beschäftigt. Dieser Begriff von "chaotisch" darf nicht mit dem bei "kreativen Prozessen" verwechselt werden.

Reifegrad 2: Managed

Erste Ansätze eines Prozessmanagements. Die Prozesse werden geplant, überwacht und gesteuert und liefern kontrollierte Ergebnisse.

Reifegrad 3: Defined

Beginn des systematischen und aktiven Prozessmanagements. Standardisierte Geschäftsprozesse für die gesamte Organisation wurden eingeführt. Z.B. existiert ein standardisierter Beschaffungsprozess, von dem die unterschiedlichen Landesgesellschaften ihre spezifischen Beschaffungsprozesse ableiten können.

Reifegrad 4: Ouantitatively Managed

Die Leistungsfähigkeit der Prozesse wird quantitativ gemessen, analysiert und anhand vorgegebener Zielwerte überwacht. Damit können notwendige Korrekturen rechtzeitig erkannt werden. Ziel ist, dass die Prozesse vorhersagbare Ergebnisse liefern.

Reifegrad 5: Optimizing

Die Prozesse werden kontinuierlich optimiert.

Hier nochmals der Hinweis, dass auch dieses Reifegradmodell nur misst, welche Mittel für die Prozessgestaltung eingesetzt werden, nicht die Qualität dieses Einsatzes. Dies sei am Beispiel des Fähigkeitsgrads 2 erläutert. Für diesen wird u.a. verlangt [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 363f]:

Was wird tatsächlich gemessen?

  • Etablierung organisationsweiter Leitlinien
  • Planung von Arbeitsabläufen
  • Bereitstellung von Ressourcen
  • Zuweisung von Rechten und Pflichten
  • Durchführung von Aus-und Weiterbildung
  • Überwachung und Steuerung der Arbeitsabläufe
  • Objektive Bewertung von Prozessinhalten

Dies wird also verlangt. Nicht erfasst wird (es wäre auch schwierig), in welcher Qualität dies realisiert wird. Das macht deutlich, dass die Leistungsfähigkeit auch eines Geschäftsprozesses mit hohem Reifegrad sehr stark vom Engagement und der Kompetenz derjenigen abhängt, die ihn realisieren.

Schwachstelle der Reifegradmodelle

Als Bewertungsverfahren wird SCAMPI (Standard CMMI Appraisal Method for Process Improvement) angewendet. Es erfüllt die Anforderungen der Norm ISO/IEC 15504. Die Appraisals werden als interne Selbstbewertungen, aber auch zur Bewertung der Prozessreife von Auftragnehmern durchgeführt. "Die Begutachtung basiert auf dem Vergleich der Prozesse einer Organisation mit den Praktiken (Best Practices) von CMMI." [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 366f]

Bewertungsverfahren

8.5 SPICE/ISO 15504

"Das Reifegradmodell Software Process Improvement and Capability Determination wurde 1993 vom britischen Institute of Electrical amp; Electronics Engineering als Standard für Softwareentwicklungsprozesse veröffentlicht und in die ISO Norm 15504 übernommen" [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 367ff]. ISO 15504 ist ein allgemeiner Standard zur Durchführung von Assessments in IT-Prozessen, in dem die einzelnen Prozesse unabhängig voneinander bewertet werden. Das Modell unterscheidet neun Prozessattribute und sechs aufeinander aufbauende Fähigkeitsstufen.

Jeder Prozess wird anhand der Prozessattribute [1] Prozessoptimierung, [2] Prozessinnovation, [3] Prozesssteuerung, [4] Prozessmessung, [5] Prozessanwendung, [6] Prozessdefinition, [7] Management der Arbeitsprodukte, [8] Management der Prozessdurchführung und [9] Prozessdurchführung bewertet (Kriterium: "realisiert"). Diese führen dann zu den Fähigkeitsstufen:

(5) Optimizing

Prozessattribute [1] und [2]. Der Geschäftsprozess ist auf die Geschäftsziele abgestimmt. Er wird ständig verbessert.

(4) Predictable

Prozessattribute [3] und [4]. Der Prozess ist "umfassend und konsistent eingeführt". Er "erreicht Ergebnisse innerhalb definierter Grenzen".

(3) Established

Prozessattribute [5] und [6]. Der Prozess ist etabliert und standardisiert.

(2) Managed

Prozessattribute [7] und [8]. "Der Prozess wird geplant und überwacht, die Prozessverantwortlichkeiten sind definiert."

(1) Performed

Prozessattribut [9]. Der Prozess ist implementiert und wird durchgeführt, die Ergebnisse sind erkennbar.

(0) Incomplete

[-]. Der Prozess ist nicht eingeführt, die Ergebnisse nicht erkennbar.

Soweit die Betrachtungen zu den Möglichkeiten, Reifegrade einer Organisation, des Geschäftsprozessmanagements oder einzelner Geschäftsprozesse zu bestimmen. Eine umfassende Darstellung dazu findet sich in [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 357ff].

Mehr in [Schmelzer und Sesselmann 2013, S. 357ff].

Zusammenfassung

Die Bestimmung der Reifegrade dient der Analyse von Geschäftsprozessen und des Geschäftsprozessmanagements bezüglich ihrer Stärken und Schwächen und dem Ableiten von Maßnahmen, mit denen die Schwächen beseitigt und die Stärken befördert werden können. Dies auf der Basis von methodischen Vorstellungen, die eine graduelle Einschätzung der Istsituation erlauben. Dabei wird die reale Situation (des Prozessmanagements) mit dem Reifegradmodell verglichen und damit der erreichte Optimierungsstand festgestellt. Die Methoden sind anwendbar auf einzelne Geschäftsprozesse, auf das Geschäftsprozessmanagement oder auf die Organisation als Ganzes. Sie messen nicht die konkrete Leistungsfähigkeit, sondern die Einrichtung der Voraussetzungen für den Prozesserfolg, wie sie das jeweilige Reifegradmodell fordert.